Der Rostock Seawolves e.V. feiert im Jahr 2024 sein 30-jähriges Bestehen. Bis Ende des Jahres erscheinen Beiträge aus der Vereinsgeschichte, angefangen mit Basketball in der DDR und in Rostock, den Anfangsjahren des Vereins bis hin zum rasanten Aufstieg von der 5. bis in die 1. Liga innerhalb von nur zwölf Jahren.
Weitere Beiträge über die Basketballgeschichte in Rostock und den Rostock Seawolves e.V. gibt es auf 30jahre.seawolves.de
All the way up. Den ganzen Weg nach oben. Die Rostock Seawolves haben mit den Profis das Ziel Basketball Bundesliga erreicht. Sie haben sich von der fünften bis in die erste Liga gekämpft, haben in nur elf Jahren eine Erfolgsgeschichte geschrieben, die im deutschen Basketball ihresgleichen sucht. Doch den Verein nur auf das Profi-Team zu reduzieren, ist verkehrt und wird den Ansprüchen nicht gerecht. Der Rostock Seawolves e.V. zählt vielmehr als nur 15 Spieler, die Woche für Woche im Glanz der Scheinwerfer in den größten Arenen der Bundesrepublik auf Beutezug gehen. Das Team der 1. Liga formt die Spitze des Eisbergs, strahlt wie ein Leuchtturm weit über Rostock, die Region und die Grenzen Mecklenburg-Vorpommerns hinaus. Im zweiten Jahr sogar bis nach Zypern, Finnland und Litauen. Die Profis symbolisieren die etwa zehn Prozent, die aus dem Wasser ragen und die öffentliche Aufmerksamkeit anziehen. Unter der Oberfläche liegen in der Regel die restlichen 90 Prozent verborgen. Dort liegt das Fundament, der riesige Unterbau, den der Verein beheimatet – und im 30. Jahr seines Bestehens zum größten Basketballverein Deutschlands zählt.
All the way up steht für noch mehr. Als nördlichster Bundesligist pflegen die Wölfe ein Alleinstellungsmerkmal, wenngleich die Reisen für andere Teams bzw. zu den Gegnern in Deutschland zu den weitesten der Liga zählen. Der einzige BBL-Klub am Meer wartet zudem mit einer Geschäftsstelle auf, die in der 6. Etage eines alten Speichers im Stadthafen liegt, mit Blick über die Dächer der Stadt.
All the way up passt perfekt zum Traumstart der SEAWOLVES in der Beletage des deutschen Basketballs. Und das als Aufsteiger. Nach vier Spieltagen thronen sie an der Spitze der Liga, sind ungeschlagen nach überzeugenden wie auch überraschenden Heimsiegen gegen den späteren Deutschen Meister Ulm und nach doppelter Verlängerung gegen Braunschweig wie auch Auswärtserfolgen in Ludwigsburg und Göttingen. Als es am 30. Oktober 2022 zum Gipfeltreffen gegen den ebenfalls noch ungeschlagenen Hauptstadt-Klub ALBA Berlin geht, brodelt die Wolfshöhle. 4.726 Zuschauer bedeuten einen neuen Zuschauerrekord für ein Basketballspiel in Rostock. Mit eigens für das Spiel produzierten Fanschals und einer großen Charity-Aktion “Kinder stärken. Kinder bewegen”, um der Bedeutung der Nachwuchsarbeit an beiden Standorten Ausdruck zu verleihen, erleben die Zuschauer beider Lager ein beeindruckendes Basketballfest, bei dem der Deutsche Meister der vorangegangenen Spielzeit den Neuling von der Ostsee mit 104:70 klar die Grenzen aufzeigt. “ALBA Berlin hat uns gezeigt, warum sie derzeit das beste Team in Deutschland sind. Wir müssen aus diesem Spiel lernen und als Team daran wachsen”, zieht Coach Held nach der Partie Bilanz. Die Lehrzeit dehnt sich aus, fließt langsam wie Harz. Es dauert bis Mitte Dezember, ehe die Wölfe wieder siegreich sind. Die 34-Punkte-Niederlage gegen Berlin ist die erste von fünf Niederlagen in Serie; von elf Spielen haben die SEAWOLVES bis Mitte Januar in nur zwei Begegnungen die Nase vorn, acht der elf Pleiten enden mit zweistelligem Rückstand. Das Team von Christian Held ist nun endgültig im knallharten Liga-Alltag angekommen, profitiert jedoch von der Hypothek der vier Siege zum Saisonstart. Der Grund für die gute Ausgangslage ist simpel wie genial. Trainertrio und Management haben an den Pfeilern der vorherigen Saison festgehalten; Spieler wie Tyler Nelson, Nijal Pearson, Chris Carter, Till Gloger, Stefan Ilzhöfer, Sid-Marlon Theis, Jordan Roland und Gabriel de Oliveira bilden den Kern. Sie kennen das System und die Philosophie Helds, haben sich in unzähligen Schlachten füreinander aufgerieben und schöpfen gemeinsam aus dem kostbaren Erfahrungsschatz, der sie an die Spitze der 2. Liga und in das Oberhaus des deutschen Basketballs gebracht hat. Auf dieses Fundament kommen Neuzugänge wie Center Selom Mawugbe, Spielgestalter JeQuan Lewis oder der variable Flügelspieler Derrick Alston Jr., die als neue Leistungsträger hervortreten und das Team offensiv wie defensiv tragen. Nach der Talfahrt von Oktober bis Januar geht es für die Rostocker wieder bergauf. Die Verteidigung als Team zeigt sich stark verbessert, die Bilanz geht bergauf und die SEAWOLVES liebäugeln sogar mit den Playoff-Plätzen.
Zu den Höhepunkten der Premierensaison in der BBL zählt das Auswärtsspiel bei ALBA Berlin am 23. April 2023. Der Besuch in der Hauptstadt wird den Anhängern der SEAWOLVES noch lange in Erinnerung bleiben: Beim Gastspiel in der Hauptstadt sind 1.500 Fans – 1.000 davon sind per Sonderzug angereist – vor Ort in der Arena am Ostbahnhof, um ihr Team lautstark zu unterstützen. Nie zuvor hat es so viel Fan-Support für die Wölfe in der Ferne gegeben. Doch damit nicht genug. Insgesamt sind 12.117 Zuschauer live in der Arena dabei – auch dies ist ein Novum in der Vereinsgeschichte.
Auf dem Spielfeld lassen sich weder die Profis der SEAWOLVES noch von ALBA Berlin von der überwältigenden Kulisse beeindrucken. Nach dem erreichten Ziel Klassenerhalt spielen die Rostocker frech und frei auf. Selom Mawugbe eröffnet das Spiel mit einem Alley-Oop-Dunk nach Anspiel von Nijal Pearson, der die Rostocker Fans aus den Sitzen reißt. Die Wölfe halten gut mit, wenngleich Jaleen Smith das Kommando bei den Albatrossen mit neun Zählern in der Anfangsphase übernimmt. Jordan Roland beendet ein unterhaltsames erstes Viertel mit einem Buzzerbeater aus der Distanz zum 25:22-Pausenstand für die SEAWOLVES.
Im zweiten Viertel setzt sich die temporeiche Partie fort. Es geht zunächst hin und her. Nach einem Drei-Punkte-Spiel von Elias Valtonen gehen die Rostocker in der 13. Minute mit 34:32 in Führung. Danach schalten die Gastgeber einen Gang höher und setzen sich auf fünf Zähler ab (36:41, 16. Min), ehe die SEAWOLVES nach einer weiteren Auszeit einen 10:2-Lauf hinlegen und kurzzeitig wieder vorn liegen (46:45, 19. Min). Die Berliner reagieren mit sechs Zählern in Serie und gehen mit einem Fünf-Punkte-Polster in die Kabine.
Nach Wiederbeginn demonstrieren die Gastgeber ihre Qualität und setzen sich zweistellig ab (62:48, 23. Min). Die Berliner Verteidigung greift nun besser als noch in der ersten Halbzeit, als die SEAWOLVES sieben ihrer elf Dreier (64%) verwandeln konnten. Im dritten Viertel sind es lediglich zwei von acht (25%) erfolgreiche Dreierpunktewürfe. ALBA Berlin spielt weiter mit der Klasse einer Euroleague-Mannschaft und setzt sich Punkt um Punkt ab. Phasenweise geraten die Rostocker mit 19 Punkten in Rückstand (51:70, 26. Min.). Der Italiener Gabriele Procida sorgt mit einem 360-Grad-Dunk für ein sehenswertes Highlight. Das Viertel geht mit 28:15 an ALBA Berlin, nachdem Tim Schneider mit dem Ertönen der Sirene zum Viertelende trifft.
Im Schlussabschnitt stecken die SEAWOLVES nicht auf. Sie wollen auf der größten Basketballbühne Deutschlands weiter zeigen, was sie die gesamte Saison so erfolgreich gemacht hat: Wille, Herz und Kampfgeist bis zur letzten Minute zeigen. Chris Carter versenkt einen Dreier zum 67:79 (32. Min) und die mitgereisten Rostocker Fans hören nicht auf, ihr Team lautstark von den Rängen zu unterstützen. Jedoch kassiert auf Seiten der SEAWOLVES in der 33. Minute sowohl Selom Mawugbe als auch Sid-Marlon Theis jeweils sein viertes Foul, sodass ALBA Berlin fortan stärker den Korb attackiert und bis zum Ende nicht mehr Gefahr läuft, den elften Sieg in Folge einzufahren. Trotz einer deutlichen 79:104-Niederlage haben die ROSTOCK SEAWOLVES mit diesem leidenschaftlichen Auftritt beim Deutschen Meister mit Sicherheit viele weitere Fan-Herzen erobert.
“Die Atmosphäre in der Halle war Wahnsinn und eine große Freude. Es war ein Riesenerlebnis für alle Fans, die dabei waren und uns die gesamte Saison über unterstützt haben. Es war auch ein riesiger Schritt für die Organisation, die sich in den letzten Jahren kontinuierlich weiterentwickelt hat. Das waren heute ein wenig die Lorbeeren, die wir geerntet haben”, meinte Coach Held nach dieser denkwürdigen Partie, in der die Fans vorab vom Berliner Ostbahnhof in einem gemeinsamen Marsch mit Bannern, Pauken und Schlachtrufen durch die Straßen entlang der East Side Gallery zur Arena zogen.
Die Kirsche auf ihre starke erste BBL-Saison setzen die SEAWOLVES im letzten Heimspiel am 7. Mai 2023. Vor der Heimpartie gegen Ludwigsburg zeichnet die Liga den Rostocker Center Selom Mawugbe zum besten Verteidiger der Liga aus. Der sympathische US-Amerikaner mit ghanaischen Wurzeln rechtfertigt seinen Award an diesem Nachmittag mit starken 16 Punkten, acht Rebounds und drei geblockten Würfen. Ein Dunk kurz vor Schluss sorgt für die kurzzeitige Führung, doch die Gäste gleichen zur Verlängerung aus. Die Halle kocht. In der Overtime übernehmen das kongeniale Duo Mawugbe und Lewis, der die kompletten 45 Minuten durchspielt, die Offensive und sichern den Wölfen einen umjubelten 92:87-Sieg im letzten Spiel dieser Spielzeit. Damit beenden die SEAWOLVES ihre Premierensaison in der easyCredit Basketball Bundesliga auf dem neunten Tabellenplatz, der mit der Qualifikation für einen europäischen Wettbewerb in der Saison 2023/2024 verbunden ist. Nach dem Spiel verwandelt sich der Vorplatz der Wolfshöhle zur Partymeile. Fans feiern noch Stunden nach Spielende ihr Team, jagen Autogrammen und Selfies nach und freuen sich über das erfolgreiche Premierenjahr in der höchsten deutschen Spielklasse.
… und dann wiederholt sich Geschichte: Die Binsenweisheit vom verflixten zweiten Jahr in einer neuen Liga bewahrheitet sich erneut. Es ist wie verhext. Wie schon vor vier Jahren in der ProA ist auch die zweite Spielzeit in der BBL zum Haare raufen. Christian Held vermutet schon vor der Saison, dass “das zweite Jahr am schwierigsten sei, weil wir auch noch nicht in der Liga etabliert sind. Ein Jahr reicht dafür nicht”. Er sollte recht behalten. Verletzungssorgen, neue Spieler, drei Wettbewerbe. Die Herausforderungen für die SEAWOLVES sind immens. Im Pokal scheitern die Wölfe in der ersten Runde beim Aufsteiger aus Vechta, zum Saisonauftakt haben sie in Crailsheim das Nachsehen, mit Ach und Krach gelingt im ersten Heimspiel gegen Heidelberg ein Overtime-Sieg. Dann folgt die Qualifikation für den Europapokal auf Zypern. Die SEAWOLVES setzen sich gegen ein Team aus Nordmazedonien und einen Klub aus dem Gastgeberland durch; das Ticket für den FIBA Europe Cup, den vierthöchsten europäischen Wettbewerb ist gebucht. Fortan müssen sich die Wölfe durch englische Wochen, also zwei Spiele binnen sieben Tagen, beißen. Es ist eine neue abenteuerliche Reise. Mal geht es von Zypern direkt nach Oldenburg, mal spielen die Wölfe unter der Woche in einem Zehntausend-Seelen-Ort in Finnland, ehe sie am Wochenende in der Wolfshöhle auf die Tigers aus Tübingen treffen. Die Strapazen der Europa-Touren hinterlassen Spuren, schlagen sich in den Ergebnissen nieder. Es geht an die Substanz. Während die Rostocker in der Gruppenphase des Europapokals vier von sechs Spielen gewinnen und auf dem Papier drauf und dran sind, die nächste Runde zu erreichen, macht ihnen der Krieg im Nahen Osten einen Strich durch die Rechnung. Durch den Konflikt in Israel werden die Teilnehmer dieses Landes vom Wettbewerb ausgeschlossen und der Modus verändert, sodass plötzlich Ergebnisse gegen die Letzten von Vierergruppen hinfällig sind. Zum Nachteil für Rostock, denen somit zwei Siege zum Weiterkommen fehlen, weil letztlich die Korbdifferenz entscheidet. In der heimischen Liga erbeutet das Rudel bis zum 2. Weihnachtstag sechs Siege aus zwölf Spielen – und ist auf Playoff-Kurs. Dann aber passiert in Vechta irgendetwas, was das Spielende in seinen Festen erschüttert und für viele unerklärlich bleibt.
Am 30. Dezember 2023 kontrollieren die Wölfe 35 Minuten lang das Spiel beim Aufsteiger aus Niedersachsen. Dann kollabiert das Rostocker System, als der nachverpflichtete Wes Clark und Topscorer Derrick Alston Jr. verletzungsbedingt ausfallen. Es wirkt, als würde aus einem Kartenhaus eine Karte aus der untersten Reihe ruckartig entrissen werden. Die Wölfe verlieren den Ball, treffen ihre Würfe nicht mehr, verzetteln sich in Einzelaktionen, während Vechta immer näher kommt und das Spiel an sich reißt. Rostock verliert nach Verlängerung und muss auch in den nächsten zwölf Spielen das Parkett als Verlierer verlassen. Es ist die längste Niederlagenserie, die der Verein in 30 Jahren mit den 1. Herren erleiden muss. Von den 13 erfolglosen Spielen enden drei nach Verlängerung, sechs Partien gehen mit sechs oder weniger Punkten Unterschied verloren. Es ist zum Verrücktwerden. Gegen den FC Bayern München besuchen 4.832 Fans die Rostocker Stadthalle – ein neuer Rekord. Das Spiel endet nach großem Kampf mit 85:91 aus Rostocker Sicht. Nach diesem achtbaren Ergebnis am 7. Januar ahnt niemand, dass teils deutliche Klatschen gegen Hamburg (94:111; 89:105), Würzburg (78:91), Göttingen (90:104) und Vechta (77:92) folgen sollen. Auch gegen Chemnitz (90:94) und Weißenfels (102:106) verpassen die Wölfe die Abfahrt auf die Siegerstraße. Das Heimspiel gegen ALBA Berlin ist an Dramatik kaum zu überbieten. Mit neun Punkten Vorsprung gehen die SEAWOLVES ins Schlussviertel, doch der Vorsprung schmilzt mit fortschreitender Uhr. 51,7 Sekunden vor Schluss führen die Rostocker mit 75:73. Acht Sekunden später folgt der Ausgleich von ALBA an der Freiwurflinie. Die Sekunden rinnen dahin, doch die SEAWOLVES wollen den Sieg. Das Publikum kreischt, pfeift, brüllt von den Rängen, will endlich wieder mit einem guten Gefühl nach Hause gehen. Doch es bleibt spannend und hochdramatisch. Die SEAWOLVES verpassen zwei Chancen auf die erneute Führung. Stattdessen schicken sie den Isländer Martin Hermannsson 4,5 Sekunden vor Schluss an die Linie. Der Berliner Guard vergibt beide Würfe von der Bonuslinie. Beim Rebound wird jedoch der ALBA-Center Yanni Wetzell gefoult, der von der Linie einen Freiwurf verwandelt und den zweiten Wurf absichtlich daneben wirft – um sich den Rebound zu sichern und den Rostockern somit die zehnte Niederlage in Serie zuzufügen. Das Team ist geschockt, ebenso die 4.800 Zuschauer, die nicht fassen können, dass ihr Team soeben trotz einer großen kämpferischen Leistung mit 75:76 verloren hat. “Wir haben über weite Strecken des Spiels vieles richtig gemacht. Am Ende sieht man, dass wir in einzelnen Situationen wahrscheinlich zu viel nachdenken und der Rucksack aus den letzten Spielen womöglich ein wenig zu schwer war. Nichtsdestotrotz bin ich stolz auf den Fight, den die Mannschaft geliefert hat und auf die Fortschritte, die wir in den letzten Wochen gemacht haben. Ich bin davon überzeugt, dass wir die nötigen Siege holen werden, wenn wir so weiter arbeiten”, meint Coach Held nach der dramatischen Niederlage. Doch es soll noch schlimmer kommen.
Eine Woche später, am 16. März, stehen in Heidelberg die Weichen 38 Minuten auf SEAWOLVES-Sieg. Mit 82:71 führen sie kurz vor dem Ende, ehe die Gastgeber ein Comeback starten, das es äußerst selten im Basketball gibt. Doch der Sport ist unberechenbar und schreibt immer wieder solche unfassbaren Geschichten. Gerade deshalb ist Basketball auch so populär und spannend. Bei elf Punkten Vorsprung so kurz vor Schluss sollte normalerweise nichts mehr anbrennen, doch je näher das Spiel auf die Zielgerade biegt, umso mehr häufen sich die Rostocker Fehler und die Offensive des Rudels gerät ins Stocken. Auch die Verteidigung hat spätestens nach dem fünften Foul von Chevez Goodwin in der 36. Minute nicht mehr so gut wie zuvor gegriffen. Plötzlich übernehmen die Heidelberger, treffen ihre Würfe aus der Distanz und haben mit ihrem US-Duo Justin Jaworski und Elijah Childs ihre beiden Go-to-Guys, die die Aufholjagd für ihr Team verantworten. 33 Sekunden vor Schluss müssen die Wölfe ihre Führung an der Freiwurflinie nach Treffern Jaworksis abgeben. 3,5 Sekunden vor Schluss haben die Rostocker die Chance auf den potenziellen Sieg, doch Lester Medfords Dreier von knapp hinter der Mittellinie trifft nur den Ring und besiegelt eine weitere, bittere Niederlage.
Durch die Negativserie rutschen die SEAWOLVES immer weiter in der Tabelle ab. Lange Zeit zehren sie von den sechs Siegen, die sie bis Weihnachten geholt haben. Weil Tübingen, Crailsheim und Heidelberger noch weniger Erfolgserlebnisse einfahren konnten, vermeiden sie einen Platz im Tabellenkeller. Der Atem des Abstiegsgespensts ist noch nicht spürbar, jedoch können ihn viele, die es mit Rostock halten, bereits erahnen. Die Vereinsführung hatte bereits nach sieben sieglosen Spielen in Folge die Situation erkannt: “Wir sind im Kampf um den Klassenerhalt angekommen! Es geht in dieser Saison um den Verbleib unserer Rostock Seawolves in der 1. Basketball Bundesliga”, lautet die Aussage von André Jürgens im Februar. “Nur wenn der Wille zum Sieg größer ist als die Angst vor dem Verlieren, haben wir eine Chance!”
Nach dem Misserfolg in Heidelberg kommen Vorstand, Aufsichtsrat und Trainer Held einen Tag später zusammen und besprechen die sportliche Situation. Am Ende fällt der Entschluss: In den elf verbleibenden Spielen der Saison 2023/2024 zeichnet Coach Held weiter verantwortlich für die SEAWOLVES. Die meisten Medienvertreter haben nach den knappen Niederlagen gegen Berlin und Heidelberg bereits mit der Entlassung Held gerechnet. Doch der Klub spricht Held das Vertrauen aus. “So eine Situation ist alles andere als normal, sondern ein extrem außergewöhnlicher Schritt”, weiß Christian Held. “Jetzt geht es darum, diese gesamte Organisation – und das betrifft nicht nur die Profimannschaft, sondern alle Mitglieder, alle Jugendmannschaften und all das, was in den letzten Jahren hier in Rostock aufgebaut wurde – zu verteidigen und alles dafür zu tun, weiterhin in der 1. Liga zu bleiben. Ich kann für meinen Teil und im Namen der Mannschaft sagen, dass wir alles investieren werden, weiterhin 100 Prozent zu geben und gemeinsam mit den Fans in der StadtHalle, aber auch auswärts, dieses große Ziel Klassenerhalt erreichen und dass wir weiterhin Erstliga-Basketball in Rostock haben.” Es soll noch zwei weitere Niederlagen geben, ehe der Negativlauf gestoppt werden kann.
Im April geht es endlich bergauf mit den Wölfen. In Tübingen gelingt der lang ersehnte Befreiungsschlag, zwei Wochen später folgt ein weiterer Auswärtserfolg beim Überraschungsteam der Liga in Würzburg. Mit diesem Sieg, wie auch mit dem Heimerfolg über Ludwigsburg, haben wohl nur die größten Optimisten gerechnet. Viel mehr Hoffnung ruht auf den beiden Spielen in Braunschweig und zuhause gegen Crailsheim. In Niedersachsen halten die Rostocker lange Zeit gut mit, geraten jedoch im Schlussviertel zweistellig in Rückstand. Tyler Nelson sorgt dann innerhalb von 141 Sekunden mit einer Ein-Mann-Show und zehn Punkten in Serie für den 70:70-Ausgleich. Zu diesem Zeitpunkt sind noch 59 Sekunden zu spielen. Sollten die Rostocker das Spiel gewinnen, wäre der Matchball im Kampf um den Klassenerhalt verwandelt, denn die Konkurrenz aus Crailsheim würde dann nicht mehr zu den Wölfen in der Tabelle aufschließen können. Doch es kommt anders. Die Löwen beißen zu, treffen zwei Dreier und gewinnen das Spiel. Die Entscheidung ist vertagt und gipfelt vier Tage später im Duell gegen den direkten Konkurrenten aus Crailsheim.
Alles ist am 8. Mai angerichtet und voller Vorfreude auf ein Basketballfest in Rostock. Die Anspannung ist den Verantwortlichen und Spielern anzusehen. Trainer und Funktionäre beider Teams tigern vor dem Spiel auf dem Parkett und auf der Tribüne. Die Ausgangslage für Rostock ist klar: Der zweite Matchball zuhause muss erfolgreich sein, um den Verbleib in der 1. Liga zu meistern. Bei einer Niederlage bekommt Crailsheim eine weitere Überlebenschance und springt dem Abstiegsgespenst von der Schippe. Das Spiel beginnt, Rostock startet verheißungsvoll, lässt dann deutlich nach und überlässt den Gästen das Zepter. Die Crailsheimer ziehen auf bis zu 21 Punkte davon und lassen die Wölfe zahnlos erscheinen. Das Rudel erntet Pfiffe im eigenen Revier und schlurft nach der 70:85-Niederlage mit gesenktem Haupt in die Katakomben. Die große Chance auf eine Party zum Klassenerhalt mit den eigenen Fans bleibt aus. Stattdessen hängende Köpfe, Tristesse und Ratlosigkeit ob der schwachen Leistung ihres Teams. Und schwindende Hoffnung, denn nun wartet im letzten Spiel der Saison der Titelfavorit FC Bayern München. Crailsheim hingegen hat die vermeintlich besseren Karten, denn die Merlins bestreiten das letzte Heimspiel der Saison in eigener Halle. Allerdings gegen ALBA Berlin. Pikant: Vor dem Fernduell um den Klassenerhalt, bei dem übrigens auch Heidelberg noch mitmischt, haben München und Berlin nur zwei Tage zuvor ein Nachholspiel bestritten. Die Bayern hatten das Spiel fest im Griff, drückten den Berlinern jedoch im Schlussviertel die Zügel in die Hand und kassierten einen 18:0-Lauf der Albatrosse, die damit das Spiel drehen und den Sieg davon tragen konnten. Aus Rostocker Sicht hat der Berliner Erfolg etwas Beigeschmack, denn durch den Comeback-Sieg über München konnten sich die Albatrosse den zweiten Tabellenplatz sichern. Befürchtungen machen die Runde, dass Berlin nun nicht mehr mit vollem Einsatz in die Partie in Crailsheim gehen und seine Leistungsträger vor dem Start in die Playoffs schonen würde. Gleiches hätte man aber auch über die Münchner sagen können, die vor dem letzten Spieltag den ersten Platz in der Tabelle sicher haben. Dennoch geben sich die beiden bekanntesten deutschen Basketballmarken keine Blöße. Sowohl die Münchner als auch die Berliner erledigen ihre Hausaufgaben im letzten Spiel der Saison. Ihre Gegner, Rostock und Crailsheim, halten phasenweise gut mit, schnuppern für Millisekunden an einer Sensation, müssen sich jedoch am Ende jeweils deutlich geschlagen geben. Obwohl beide Spiele parallel starten, zittern nach Spielende die anwesenden Rostocker Fans, Verantwortlichen und Spieler in der Halle bzw. Kabine des Münchner BMW Parks, da das zeitgleich stattfindende Spiel zwischen Crailsheim und Berlin noch nicht beendet ist. Viele Fouls und Unterbrechungen in Crailsheim, das sich mit allen Mitteln wehrt, ziehen die Partie in die Länge. Als feststeht, dass Berlin mit 103:83 in Crailsheim gewonnen hat und die Merlins die SEAWOLVES nicht mehr in der Tabelle ein- bzw. überholen können, herrscht Erleichterung bei den SEAWOLVES, die auch 2023/2024 im Oberhaus des deutschen Basketball spielen werden. Tränen der Erleichterung kullern bei vielen, vor allem bei den Anwesenden, die das letzte Saisonspiel ihres Teams live im mittlerweile fast leeren BMW Park in München verfolgt haben. Und das am 12. Mai, exakt zwei Jahre nach dem Aufstieg. Club-Chef André Jürgens, der beim Auswärtsspiel in Braunschweig und in München live vor Ort gewesen ist, zeigt sich erleichtert: “Wir sind mit zwei blauen Augen davon gekommen.”